Ich erwache und schaue aus dem Fenster. Alles ist von einer Schneehülle bedeckt. Stille und Freude durchziehen mein Herz. Ein Gefühl, das nur schwer zu beschreiben ist, das mich jedesmal in meiner Kindheit landen lässt. An Schneetagen geht es mir immer gut. Am meisten, wenn der Schnee noch am Fallen ist. Dann ist mein Herz frei und voller Liebe gefüllt. Schneetage sind Seelenschmeichlertage. Als ich noch ein Kind war, ging
an solchen Tagen morgens alles rascher, denn gleich würde ich draußen im Schnee sein, warm eingepackt. Schihosen und Schischuhe wurden angezogen, obwohl wir nur rodeln gingen. Die
Fausthandschuhe, die mein Vater jedes Jahr strickte, waren über meine Hände gezogen, die ebenfalls von ihm gestrickte Ringelmütze saß auf meinem Kopf. Bei dieser Prozedur des Anziehens schwitzten
wir regelmäßig. Wir Kinder waren aufgeregt. Dann endlich ging es nach draußen. Der Schlitten wurde aus dem Keller geholt und seine Glocke bimmelte auf dem Weg zum Rodelberg. Dort waren schon die
ersten Kinder. Wir suchten uns eine günstige Abfahrt. Stellten uns in der Schlange an und warteten bis wir dran waren. "Bahne frei, Kartoffelbrei", erscholl unser Rufen, ehe wir die Bahn
hinunterfuhren. Viel zu rasch waren wir unten angekommen. Manchmal kippten wir um und fielen der Länge nach in den Schnee. Danach begann der Aufstieg nach oben. Die Füße quer zum Berg setzen, so
ging es leichter hinauf. Das hatte uns unser Vater so beigebracht.
Wagenschacht, so hieß diese Grube, die zu einem Laubwäldchen hin nahe der Bahngleise, einige Schrägen zum Hinabrodeln hergab. Unser Winterabenteuerland.
Lief man weiter in Richtung Bahngleise und bog den Weg ab, so landete man an einer Langrodelstrecke mit einem kleinen Hügelabhang am Beginn. Hier ging es kurz steil herab, ehe man allmählich,
wenn man genügend Schwung gesammelt hatte, etwas 50 m weiter landete. Auch hier war eine kleine Baumansiedlung, die zudem sumpfig war und meistens gefrorene Flächen aufwies. Wenn ich heute diese
beiden Strecken betrachte, kommen sie mir arg klein und kurz vor. Als Rodelberge sind sie heute leider nicht mehr nutzbar. Die idyllische Traum- und Abenteuerlandschaft meiner Winterkindertage,
sie gibt es so nicht mehr. Kinder sucht man hier heute vergeblich an diesem einst so kinderüberbordenden Ort. Kaum zu glauben,
dass in meinen Kindertagen im Winter hier das Leben tobte. Doch tief in mir drin ist es noch lebendig.
An diesem Ort war man nicht wie in der Schule fein säuberlich nach Alter getrennt. Hier gab es die Großen, die Kleinen und die, mit denen man befreundet war. die Freude und der Spaß überwogen
regelmäßig meine Angst vor dem Fremden. Weshalb ich hier selten allein hinging . Die großen Kinder machten mir Angst. Sie hatten laute Stimmen, schrien und schubsten, wenn nötig, oder machten
sich über einen lustig. Doch nach solchen Erinnerungen muss ich viel länger kramen. Viel wichtiger waren die Schlittenfahrten mit der Freude, die sie bereiteten und der Mühe, die es gab,
wenn wir die Berge oder Strecken uns rückzu mit dem schweren Schlitten erlaufen mussten. Doch dann gab es ja wieder die Belohnung, das Herab - oder Herunterfahren mit dem Schlitten im
Schnee. Ich erinnere nicht wie lange wir tatsächlich beim Rodeln waren, doch am Ende froren wir jedesmal erbärmlich an unseren Händen und Füßen. Schneeklümpchen saßen an den wollenen
Handschuhen fest. Die Füße waren eiskalt und kaum noch zu spüren beim Laufen. Die Kälte tat entsetzlich weh. Ich habe keine Ahnung, warum wir regelmäßig bis zum Frierpunkt unserer Hände und Füße
dort verweilten. Wenn ich jedoch nach Hause kam und mein Vater war da, dann nahm er verlässlich unsere Hände und vor allem unsere Füße zwischen seine Hände. Die nassen Socken waren ausgezogen und
er rubbelte uns die Füße warm und pustete seinen warmen Atem belebend auf sie. Welch schöner Moment, so umsorgt zu sein. Am Ende zog er mir trockene Socken auf die Füße und ich steckte sie
zwischen die warmen Heizungsrippen. War mein Vater nicht da, so knibberten wir die gefrorenen Schnürsenkel selbst mit unseren steif gefrorenen Fingern auf, leise vor uns hinwimmernd vor Schmerz.
Dann endlich kamen die Füße zwischen die Heizungsrippen und wir tauten im wohlig warmen Esszimmer wieder auf ins Leben. Meistens duftete schon das Mittagessen aus der Küche. Ich erinnere, wie
hell es im Zimmer war und an die warme und freudige Stimme meiner Mutter, die zu uns drang. Wenn wir wieder gewärmt waren, war der Tisch bereits gedeckt und wir saßen alle zusammen beim
Mittagessen.
Ich hatte wirklich das Glück, dass ich beide Seiten des Winters kennen lernen konnte. Die große Freude am Schlittenfahren, die mich vergessen ließ, dass ich zunehmend fror und mich erst, wenn
nichts mehr ging, vor Schmerz weinend nach Hause trotten ließ. Und ich erinnere ein Zuhause, wo mich Wärme empfing. Die Wärme einer funktionierenden Heizung, die immer beheizt werden konnte und
die meinen Körper wärmte und die fürsorgliche Wärme meiner Eltern, die mein Herz wärmten. Und beides war selbstverständlich für mich. Normal war für mich, versorgt zu sein. Einfach so, weil ich
lebte.
Ich erlebte Abenteuer, die mich regelmäßig herausforderten, weil ich an Orten war, die mir auf der einen Seite Angst machten und mir auf der anderen Seite Freude schenkten. Und da gab es die
Gewissheit, dass ich nach Hause kommen konnte und meine Mutter würde da sein. Ich erlebte aufmerksame Fürsorge durch meine Eltern, die uns von ganzem Herzen liebten, auch wenn meine Mutter das
nie so direkt aussprach. Ihre Liebe und ihre Freude an uns schwangen damals durch unsere Wohnung. Unser Vater spielte mit uns, erzählte unglaubliche und witzige Geschichten und las uns aus dem
alten Märchenbuch vor, in das meine Mutter als Kind Zigarrenbilder eingeklebt hatte.
Und heute, wenn es schneit, ist dieses Gefühl meiner sorglosen Kindheit ganz stark in mir da. Ich brauche nichts zu tun und bin nur so, weil es gerade schneit, sorglos. Schneefall und
Schneelandschaften sind unmittelbar an meinen Freudepool angebunden.
Heute weiß ich, was es bedeutet, ein Heim zu heizen und seinen Kindern Liebe zu schenken und dass es leider nicht für jeden normal ist. So macht mich das Lebensgefühl heute zusätzlich dankbar,
weil ich weiß, was ich als Kind nicht wusste, weil es für mich normal war, wie es war. Doch Kind zu sein und nicht dankbar sein zu müssen, einfach, weil man doch schon die Freude spürt und sie
einen durchwebt und sich Dankbarkeit überhaupt nicht als Aspekt ergibt, weil man selbst der pure Ausdruck von Dankbarkeit ist, das sollte schon normal sein.
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Karin (Sonntag, 15 Januar 2017 15:28)
Eigentlich mag ich den Winter gar nicht, ziehe die große Hitze allem anderen vor, aber deine Schilderung vom Schnee erinnert mich doch daran, dass auch ich schöne Erlebnisse im Schnee hatte. Ich höre immer gerne deine Familiengeschichten und auch deine Schilderungen vom Leben in der ehemaligen DDR. Das ist sehr interessant für mich. Vielen Dank
Birgit K. (Mittwoch, 18 Januar 2017 12:20)
Liebe Susanne,ich habe gerade nochmal deinen Bericht gelesen...
Dabei habe ich das Überlegen und Sinnieren angefangen...wo bin ich damals als Kind Schlitten gefahren...wow,das hat gedauert...nach einer Weile mit geschlossenen Augen ist mir dann eingefallen,dass es mehrere kleine Berge bzw.Huegel gab,wo ich damals,am liebsten mit Papa im Rücken oder vor mir gefahren bin.Mit großer Freude und viel Spaß und Leichtigkeit!
Habe mich heute sehr gern daran erinnert.
Danke dafür,
Namaste' und ALOHA
Birgit