Heute ist Sonntag. Es könnte ein schöner Tag sein. Die Sonne lacht mich am Morgen aus dem Bett. Doch da ist sie zeitgleich mit mir aufgestanden, meine depressive Verstimmung. Ich spüre sie.
Allerdings längst nicht mehr so stark und so schlimm wie noch vor einem Jahr. Sie ist da. Zu meinem Glück kommt heute eine Klientin zu mir.
Noch bin ich mir nicht sicher, ob das Gefühl
ein "Vorprogramm" des bevorstehenden Coachings ist oder ob sich hier mein eigener Prozess findet.
Egal, denke ich - wir sind ja eh alle miteinander verbunden. Ich nehme an, was ist und spüre, wo die Verbindung hingeht.
Ich gebe mir einen Schubs und mache mich an die Arbeit, die seit gestern schon auf mich wartet. Wäsche in die Waschmaschine. Ja, ich spüre Dich und ich weiß, dass Du da bist. Ich dusche mich. Dann gebe ich mir noch eine Massage mit meiner Bürste. Das tut gut. Ich liebe die Schönheit meiner Füße und doch beuge ich mich viel zu selten pflegend zu ihnen hinab, die mich täglich überall hinbringen. Ich ziehe mich an, nehme noch Wäsche von der Leine, lege sie zusammen, räume ein wenig auf in unserem Schlafzimmer. Gehe auf den Balkon. Die Luft tut gut. Im Garten gelben die Osterglocken, bei der Nachbarin bimmeln schneeweiß die Schneeglöckchen im Garten - so viele, dass es mich ganz neidisch macht. Ich gehe wieder hinein und wasche die Töpfe ab. Dann doch noch den Küchenfußboden von den ärgsten Flecken befreien. Ich atme auf. Die Ordnung und die Sauberkeit tun mir gut. Es ist gut, etwas zu tun um gegen die Düsternis in mir anzukommen, die sich in mir ausgebreitet hat. Sie kommt, wann sie will und meistens, wenn ich mich durch etwas Anstehendes unter Druck gesetzt fühle, selbst, wenn ich mir selbst diesen Termine gesetzt habe. Wenn ein Termin ansteht, macht mir das Druck, vor allem, wenn es an mir liegt, zu seinem Besten beitragen zu müssen. Ich verstehe plötzlich meine Tochter, die nicht zur Schule gehen will, der jede Art von Aufgabe, die von außen auf sie zu kommt, Druck macht. Während ich dies schreibe, wird mir heiß und kalt.
Die Erinnerungen ploppen ungefragt hoch: Die Überwältigung meines kleinen Körpers und die Bemächtigung über meinen Körper, dem ich nichts entgegen setzen konnte. Jetzt spüre ich das Verdrängte, sich des Körpers über Jahre Bemächtigende. Ich fühle, was da gefühlt sein muss, wenn die Depression gehen soll. Kein Widerstand mehr. Das Depressive, mich Niederdrückende verschwindet. Es ist durchfühlt, was damals geschah. Da ist die Frage mit Blick auf all die Menschen und wie das überleben konnten, wenn sie solcher Gewalt täglich ausgesetzt waren, über Jahre hinweg. Meine tief ins Unterbewusstsein verdrängte Erfahrung von körperlicher Gewalt, die überraschend für mich in einer Coachingsitzung ans Tageslicht kam, war eine einmalige Erfahrung, danach war ich in Sicherheit, wieder zu Hause. Und obwohl sie wie ausgelöscht war, hatte diese Erfahrung meine Welt gravierend verändert. Die Welt jenseits von zu Hause war zu einem gefährlichen Ort geworden. Nur das MUSS, die Pflicht konnte mich von zu Hause weg bekommen oder wenn ich mit Menschen, denen ich vertraute, unterwegs war. Alles andere ging nicht. Allein in den Wald, spazieren gehen? Fehlanzeige! Allein verreisen? Fehlanzeige! ... allein in die böse Welt der Arbeit? Freiwillig? Fehlanzeige! Ich blieb zu Hause und sah zu, dass ich möglichst nicht aus dieser sicheren Ecke heraus musste. Sobald es draußen gefährlich wurde, sich jemand mit all seinem Zorn und seiner inneren Wut über mich herfallen wollte, ich war weg, wenn es ging. Plötzlich ergibt alles einen Sinn. Weshalb ich mich immer in mir selbst verkroch.
Vorhin habe ich mich mit meiner Depression getroffen. Sie gibt sich ja alle Mühe und spricht auf diese drückende Weis mit mir. Jetzt saß ich in meinem Sessel in meinem Seminarraum und fühlte.
Weinen übermannte mich. Da war sie - meine Freundin, die Depression. Wie ein dunkler Mantel hatte sie sich schützend über mich geworfen, mich abgeschnitten zu fühlen, was zu schlimm war als dass
ich es hätte fühlen wollen. Zu schlimm, um es zu überleben. Und nun da ich erwachsen war, kam sie wieder zu mir und deckte mich zu, damit ich nichts spüren musste, die große weite Welt, in meinem
Inneren war sie böse geblieben. Ich ging nicht einfach zu fremden Menschen, die ich nicht kannte und doch kam ich wieder und wieder nicht darum herum. Ich hatte sie zu meiner engsten Vertrauten
gemacht, die Depression, zu meinem Schutz und meinem Machtareal. Hier kam niemand durch zu mir. Sie ist diejenige, bei der ich in Ruhe sein kann, die mich schützten kann, damit ich da
nicht mehr hinaus muss. Doch das Leben fordert seinen Tribut und will gelebt sein und und da ich erwachsen bin, da ist sie nicht mehr meine hilfreiche Freundin, sondern hält mich auch ab von
allem Lebendigen, von meiner Arbeit, nach der mein Herz sich verzehrt und nach all dem vielen was es da noch gibt, um von mir entdeckt zu werden. Sie ist da und ich halte sie fest, sie war die
Einzige, die da war und mich geschützt hat, als ich schutzlos ausgeliefert war. Liebe Freundin Depression, es ist Zeit Abschied zu nehmen von Dir und es ist als müsste ich mich selbst aufgeben,
so vertraut bist Du mir geworden ... Liebste Freundin, Lebensretterin. Ich kann Dich nicht mehr bei mir behalten, denn nun kehrt sich Deine Kraft gegen mich und gegen mein lebendiges Leben, so
wie Deine Kraft sich damals gegen das Verletzende und scheinbar Todbringende im Außen versuchte, von mir abzuwenden. Es macht heute keinen Sinn mehr und so lasse ich Dich ziehen, denn ich
bin nun groß und achte auf mich selbst.
Adieu liebste Freundin Depression.
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